zurück zur Übersicht

Peter Wild verlässt die LAG - Hintergründe, Resümee und Perspektiven

6. Januar 2017

Peter Wild während der Fachtagung “ZEHN! Jahre LAG Jungen- und Männerarbeit Sachsen e.V.” am 15. Juni 2016 in der Evangelischen Akademie Meißen

Peter Wild, Geschäftsführender Bildungsreferent der Landesfachstelle Jungenarbeit Sachsen (LFS), wird ab dem 01. März 2017 eine neue berufliche Aufgabe übernehmen. Seine Verabschiedung aus der LAG Jungen- und Männerarbeit Sachsen e.V. (LAG) bietet Anlass, mit ihm noch einmal im Gespräch zu sein. Dies tut Christian Kurzke, Vorstandsvorsitzender des Vereins und langjähriger Weggefährte.

Christian Kurzke: Vielleicht bekommen es erst jetzt einige mit, dass diese Veränderung ansteht. Und da für viele die Person Peter Wild und Jungenarbeit in Sachsen irgendwie zusammengehören, sollten wir gleich zu Beginn auf den eigentlichen Anlass dieses Gespräches zu sprechen kommen und die Frage stellen, die ja derzeit auch immer wieder von Dritten an Dich herangetragen wird: Weshalb wirst Du zukünftig nicht mehr als Mitarbeiter der LAG wirken?

Peter Wild: Das war keine einfache Entscheidung, die Arbeit und Themen der Jungenarbeit sind immer noch spannend und vielfältig und die Organisation bietet weiter Entwicklungsmöglichkeiten. Letztlich war es meine Entscheidung, nicht mehr in zwei verschiedenen Städten zu leben und zu arbeiten. Ich habe ja in den letzten zehn Jahren viel Lebenszeit auf der Autobahn zwischen Chemnitz und Dresden verbracht.

CK: Heißt Deine Entscheidung jetzt auch, dass Du mit den Themen der Jungenarbeit und den konkreten Fragen der Lebenslagen von Jungen* in Zukunft keine Berührungspunkte mehr haben wirst?

PW: Ich werde in meiner neuen beruflichen Rolle als Bereichsleiter für Soziale Dienste der Stadtmission Chemnitz nicht mehr ausschließlich an Themen der Jungenarbeit arbeiten. In verschiedenen Arbeitsfeldern, für die ich dann verantwortlich bin, werden Jungen*- und Genderthemen mindestens als Querschnittsthema weiter wichtig bleiben. Schwerpunkte sehe ich dabei in Bereichen wie Jugendsozialarbeit, Suchtberatung, Wohnungslosenhilfe, psychosoziale Beratungsstellen oder Kitas.

CK: Das klingt ja nun sehr grundsätzlich und irgendwie selbstverständlich für diese vielfältigen Handlungsfelder. Hast Du Jungen* – und Männer*themen in Deiner Arbeit immer so erlebt? Sind sie „selbstverständliche“ Themen oder sind Dir auch bestimmte Herausforderungen in der Arbeit, wie auch mit potentiellen Kooperationspartnern begegnet?

PW: Vor zehn Jahren, mit dem Beginn des Landesmodellprojektes Jungenarbeit Sachsen, erlebte ich viel Erstaunen, Neugier und grundsätzliche Anfragen zur Jungenarbeit. Es gab in Sachsen lediglich zwei Projekte: das Männernetzwerk Dresden und LEMANN Leipzig. Also, Jungenarbeit war überhaupt nicht selbstverständlich, eher unbekannt bis exotisch. Heute erlebe ich drei verschiedene Adressaten*innengruppen der Landesfachstelle Jungenarbeit. Erstens, die Begleitung der gut ausgebildeten Gendertrainer*innen als Multiplikator*innen und Spezialist*innen. Zweitens, die fachliche Begleitung und Vernetzung der Absolvent*innen der Modulreihe Jungenpädagogik und der fünf sächsischen Arbeitskreise Jungenarbeit. Und drittens, Fachkräfte, die bisher kaum Auseinandersetzung mit geschlechterreflektierender Pädagogik hatten. Leider gibt es immer noch Einrichtungen, in denen Genderthemen keine Rolle spielen.

Ich sehe noch viele Entwicklungsmöglichkeiten in ländlichem Raum und Schule. Als Verein ist es uns bisher wenig gelungen, z.B. Institutionen der Wirtschaft und Krankenkassen zu erreichen.

CK: Welche Argumente, welche Erfahrungen mit dem Arbeitsfeld der LAG motivierten dann Dein jeweiliges Gegenüber, sich tatsächlich mit der Thematik auseinander zu setzen?

PW: Ich erlebe, dass es gut möglich ist, Fachkräfte für geschlechterreflektierende Pädagogik aufzuschließen, wenn diese in Auseinandersetzung mit ihren eigenen berufs-(biografischen) Geschlechterthemen kommen. Ich bin mir, zumindest im Kontext von Fortbildung und Beratung sicher, dass Bewertungen und Belehrungen ohne Interesse an den Hintergründen von Teilnehmenden wenig nachhaltige Entwicklung der fachlichen Haltungen bewirken werden.

CK: Lass uns das noch einmal auf die Ebene der Jungen* transferieren. In Gesprächen erzählst Du immer wieder, dass Fachkräfte sich bei Dir melden und erzählen, dass sie die Jungen* als schwierig erleben und ob Du helfen kannst. Wobei genau kannst Du bei einer so recht allgemeinen Vorstellung von Jungenarbeit helfen, und wo sind eben die Grenzen?

PW: Ja, ich erlebte oft Anfragen wie: Die Jungen* nerven so, sind aggressiv und werfen mit sexualisierten Sprüchen um sich. Können Sie mal zu uns kommen und drei Nachmittage Jungenarbeit anbieten? Solche Anfragen haben wir bisher kaum angenommen. Wenn wir Jungenarbeit als Beziehungsarbeit von Fachkräften mit einer professionellen und ressourcenorientierten Haltung betrachten, dann wollen wir Jungen nicht passfähig machen für die jeweilige Institution, sondern die Fachkräfte befähigen, selbst mit Jungen* an deren Themen zu arbeiten. Für uns braucht Jungenarbeit drei Ebenen: 1. die Jungen*, 2. die Fachkräfte und 3. die Institution.

CK: Und was heißt dies für die Fachebene, also die Jungenarbeit selbst? Welche Themen und Handlungsfelder wurden in den letzten Jahren identifiziert oder entwickeln sich derzeit?

PW: Oh, das sind aber eine Menge. Als Klassiker wird das Thema „Jungensozialisation“ oft nachgefragt. Beschäftigt haben uns aber auch Themen wie Jungenadoleszenz, Sexualität, aggressives Jungenverhalten, Migration und Männlichkeit(en), männliche Inszenierungen bei rechtspopulistischen Protesten, Heteronormativitätskritik und queere Themen. Seit dem letzten Jahr sind wir an einer Überarbeitung der Qualitätsstandards zur Jungenarbeit in Sachsen beteiligt.

CK: Diese thematische Vielfalt sollten wir auch noch einmal von der LAG-Perspektive betrachten. Du kennst die LAG von ihren Anfängen an, wie würdest Du die Entwicklung beschreiben? Was wurde erreicht? Und gibt es auch herausragende Aspekte zu berichten, wo wirklich Bleibendes, Veränderndes entstanden ist?

PW: Die LAG hat sich von einem „Ein- Mann*- Betrieb“ zu einem leistungsfähigen überörtlichen Träger entwickelt, welcher endlich personell und organisatorisch auf sicheren Beinen steht. Wir sind als fachlicher Ansprechpartner für Jungen*-, Männer*- und Genderthemen etabliert und geschätzt. Die beiden „Peters“ (Peter Bienwald und Peter Wild) als Bildungsreferenten werden häufig als Referenten eingeladen. Die intensive Zusammenarbeit mit der LAG Mädchen und junge Frauen Sachsen e.V. bewerte ich trotz aller Höhen und Tiefen als eine wichtige und bundesweit einmalige Entwicklung. Als weiteren Meilenstein der LAG sehe ich die Etablierung der Landesfachstelle Männerarbeit. Endlich kann damit unserer Gründungsidee als LAG Jungen- und Männerarbeit Sachsen auch mit professionellen Möglichkeiten entsprochen werden.

CK: Zu dem Geschilderten gehört aber die andere Seite der Medaille: In welchen Vorhaben hast Du immer wieder Herausforderungen und vielleicht sogar ein Scheitern der LAG oder der Landesfachstelle erlebt? Und, lass uns das noch verstärken, wo könnten für die Arbeit der LAG zukünftig größere Herausforderungen liegen?

PW: Gescheitert bin ich regelmäßig an einer vollständigen Bewilligung unseres Förderantrags. Ich beantrage seit einigen Jahren eine halbe Personalstelle für Sachbearbeitung. Dies würde uns sehr helfen, uns deutlicher auf die Arbeit als Bildungsreferenten zu konzentrieren. Zusätzlich bleibt es eine Herausforderung, zum Jahresbeginn zwei oder drei Monate vorzufinanzieren, da wir die Bewilligung der Fördermittel jeweils erst im laufenden Jahr erhalten. Was spräche eigentlich gegen eine Bewilligung für zwei Jahre?

Als konflikthaft und schwierig habe ich die Auflösung der engen Kooperation mit der LAG Mädchen und junge Frauen Sachsen e.V. erlebt. Ich bin froh, dass wir trotzdem weiter gemeinsam zu Lehrveranstaltungen und Seminaren unterwegs sind.

An aktuellen Herausforderungen sehe ich das momentane Erstarken der Anti-Gender- Bewegung. Es werden dabei grundlegende Fachlichkeiten sowie Wissen um Lebenslagen von Menschen negiert und die Absichten geschlechtsreflektierender Arbeit und disziplinübergreifender Wissenschaft diffamiert. Hier wünsche ich mir weiterhin eine klare und sichtbare Haltung der LAG.

CK: Gut. Und was hat bewirkt, dass die LFS gut arbeiten konnte? Welche Bedingungen benötigt eine Landesfachstelle wie die der LAG, um professionell und nachhaltig arbeiten zu können?

PW: Eine wichtige Unterstützung war der Vertrauensvorschuss, den ich nach dem Modellprojekt Jungenarbeit von Kooperationspartner*innen und insbesondere vom Landesjugendamt spürte. Mir wurde damals zugetraut, Jungenarbeit als ein neues Thema in Sachsen weiter voranzubringen. Dafür bin ich sehr dankbar. Wichtig war auch, dass es eine Kontinuität im Vorstand gibt. So konnten über einen längeren Zeitraum verlässlich fachliche Arbeitsbeziehungen wachsen und langfristige strategische Ziele verfolgt werden. Sehr wichtig empfand ich die Möglichkeit, selbstbestimmt und fachlich eigene Schwerpunkte zu setzten. Diese Freiräume haben wir verantwortlich genutzt. Was hat noch bewirkt, dass wir gut arbeiten konnten? Dazu gehören die Begegnungen und Inspiration durch Arbeitskreise, Kooperationspartner*innen, Mitglieder und Projekte, welche mit uns zusammengearbeitet haben. Als weitere Bedingung für professionelle und nachhaltige Arbeit empfinde ich ein gutes Team, welches einen fachlichen Anspruch vertritt und deshalb selbst ständig am Lernen ist. Mit Peter Bienwald hatte ich einen Kollegen, der die Arbeit mit viel Fachlichkeit, Reibungsfläche und Herzlichkeit mitentwickelt hat.

CK: Nun Peter, vielleicht versuchen wir ein Ende dieses Gespräches zu finden, auch wenn es so vieles gibt, was vertieft werden müsste. Wenn Du zurückschaust auf Deine Zeit in der LAG, dann gibt es bestimmt konkrete Sachen, die Dir wichtig geworden sind, die Dich geprägt haben. Vielleicht ein bestimmtes Buch, ein Gegenstand oder auch ein Sachverhalt, der das Arbeiten erleichtert und positiv geprägt hat. Fällt Dir da etwas Konkretes ein, und ist es möglich das mitzunehmen, einzustecken?

PW: Mitnehmen? Einstecken? Klar, als erstes das längst vergriffene Buch von Winter/Neubauer zum Balancemodell. Ich habe dazu auch meine Mastercoachingarbeit geschrieben und bin immer noch beeindruckt, wie viel Potenzial zur Auseinandersetzung für Jungen* und Männer* in diesem Modell liegt.

Was ich auf jeden Fall mitnehme sind die intensiven fachlichen Begegnungen mit sehr verschiedenen Menschen, die mich bereichert haben.

Und die Klarheit, dass die Jahre in der LAG für mich sehr wertvolle, dichte, lebendige Lebenszeit waren, für die ich sehr dankbar bin.

CK: Peter, im Namen des Vorstandes, der Mitglieder und der Mitarbeitenden der LAG mag ich Dir herzlichen Dank für die gemeinsame Zeit sagen. Wir blicken zurück auf eine sehr intensive, verlässliche, weiterführende Zusammenarbeit, die immer lösungsorientiert nicht nur im Sinne der LAG, sondern eben auch im Interesse des Handlungsfeldes gestaltet war. Und, auch wenn es immer so „nüchtern“ klingt: wir wünschen Dir und Deiner Familie alles Gute!