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Fachtag zur Jungen*- und Männer*gesundheit voller Anregungen

24. April 2018

Am 23. April fand in Dresden der Fachtag „Den Motor am Laufen halten?! – Check-up zur Gesundheit von Jungen* & Männern*“ statt. Er wurde von den Landesfachstellen für Jungen- und Männerarbeit Sachsen ausgerichtet, in Kooperation mit dem Trans-Inter-Aktiv-Mitteldeutschland e.V..

Vortrag Dr. Bernhard Stier

Dr. Bernhard Stier (Hamburg) beim einleitenden Vortrag zu Jungen*gesundheit

Der Tag startete mit dem Vortrag von Dr. Bernhard Stier „…und wie geht’s den Jungs*? Brauchen wir mehr Expertise in Jungen*gesundheit?” Der Hamburger Kinder- und Jugendmediziner sowie Autor mehrerer Fachbücher ging darin auf die Notwendigkeit ein, sich intensiver mit Jungen*medizin und Jungen*gesundheit auseinander zu setzen. Stier räumte gängige Vorurteile aus mehreren Jahrzehnten Forschung aus, etwa, dass Testosteron für Aggression verantwortlich sei. “Testosteron ist ein Sozialhormon”, lautete sein begründet vorgetragenes Forschungsfazit, denn das Hormon fördert die soziale Integration in die Peergroup. Jungen sind “Rudelwesen” und dies ist sehr stark testosterongesteuert. Außerdem befördert das Hormon den Bewegungsdrang. Bewegung ist wiederum für die Verknüpfung beider Hirnhälften beim Denken wichtig. Beim Verhalten von Jungen* zeigte Stier sodann zehn Fallstricke auf, erklärte unter anderem, dass und warum Jungs* in virtuelle Welten flüchten: Testosteron fördert auch den Antrieb und den Entdeckerdrang. Leider erfahren Jungen in zunehmendem Maße die Einschränkung ihrer Abenteuerwelten. Nicht wenige flüchten sich in virtuelle Welten (Stichwort: Computerspiele) und leben dort ihr soziales Miteinander aus.

Auch das Thema Verhütungsberatung wurde angerissen. Der Kinder- und Jugendarzt setzte sich für den Begriff „Vaterschaftsverhütung“ ein, um darauf hinzuweisen, dass beim Thema Verhütung männliche Partner unbedingt mit einzubeziehen sind. Die geschehe zunehmend, aber nicht umfänglich genug.

Auch zur Akzeptanz schwuler Jungen* gab es Neuigkeiten. Wie Umfragen bestätigen, sind sie gesellschaftlich zwar besser akzeptiert, jedoch nach wie vor nicht so gut wie lesbische Mädchen. Homosexuelle Jungen* seien zudem häufiger von sexueller Gewalt betroffen. Missbrauch in diesen Zielgruppen beruhe auf Einsamkeit der Betroffenen und ihrer Hoffnung auf Akzeptanz. Homosexuelle Jungen* seien für Beratungen schwerer erreichbar, als heterosexuelle Jungen- und Männergruppen.

Dr. Stier führte weiter aus, dass Jungen* deutlich mehr zu Risikoverhalten neigen als Mädchen*. Es gäbe kein Risikogen, jedoch führten die testosteronbeeinflussten, ursprünglich durchaus positiv zu sehenden Anlagen (z.B. Antrieb, Entdeckerdrang, Aktivität…) unter sozialem Druck und dem gesellschaftlich vermittelten Bild von und Anspruch an “Männlichkeit” vermehrt zu Risikoverhalten. So sind Jungs z. B. mehr als dreimal so stark von tödlichen Unfällen betroffen und betätigen sich vermehrt in Sportarten mit erhöhtem Verletzungsrisiko. Ob  Risikoverhalten gefahrenbelastet ausgelebt wird, liege wesentlich an gesellschaftlichen Faktoren, wie sie etwa in Männlichkeitsdiskursen abgebildet werden. So sei der Anabolikakonsum infolge stereotyp männlicher Idealisierungen in benachteiligten Gruppen steigend. Bei den 15 – 22jährigen liege er aktuell bei 7% der Grundgesamtheit. Genutzt würden Anabolika verstärkt in Fitnessstudios, für den allgemeinen Muskelaufbau (männliches Schönheitsideal) und zunehmend auch im Breitensport.

Zusammenfassend plädierte der Kinder- und Jugendarzt: Experimentier- und auch Risikoverhalten gehören zum Jugendalter (Stichwort: Pubertät). Risiken einzugehen ist für die Entwicklung notwendig. Daher sollte dem männlichem Risikoverhalten besser mit Risiko(steuerungs)kompetenz begegnet werden. Prävention ist also viel mehr als Warnen und Vermeiden. Daher sollte die Risikoeinschätzung und -bewältigung mehr in den Fokus genommen werden. Besondere Bedeutung komme dabei der Vater-Sohn-Kommunikation zu. Denn Väter sind – wenn präsent – sehr starke Identifikationsfiguren. Zudem beginnt Männergesundheit  immer beim Thema Jungengesundheit. “Was  Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr”.

Handout-Dr-Stier-Vortrag-Und-wie-gehts-den-Jungs.ppt

Vortrag Prof. Dr. Martin Dinges

Prof. Martin Dinges vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung

Den zweiten Vortrag hielt Prof. Dr. Martin Dinges vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung. Sein Thema war „Männlichkeit* – kein Gesundheitsrisiko!?“. Männern, so die Ausgangsthese, werde oft unzureichende Gesundheitssorge vorgeworfen. Dies greife zu kurz, so Prof. Dr. Dinges, denn der Gesundheitsstatus und das Gesundheitsverhalten von Männern* seien vielfältig mit geschlechterspezifischen Zuschreibungen und Orientierungen verbunden, die nicht beliebig sind. Im Vortrag analysierte der Historiker deren Entstehung und Entwicklung während der letzten Jahrzehnte und skizzierte ihre Auswirkungen auf Männer im erwerbsfähigen Alter.

Die Unterschiede in der geschlechterspezifischen Aufteilung von Berufs- und Sorgearbeit von Männern und Frauen seien erst in den letzten fünf Generationen entstanden und veränderbar, nämlich durch Gesundheitsbildung und durch Auseinandersetzung mit problematischen Männlichkeitsbildern. Zum Beispiel habe sich der Status des Rauchens historisch gesehen stetig gewandelt. Die ursprüngliche Zuschreibung, Soldat = Rauchen = Männlichkeit aus den beiden Weltkriegen wurde seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch vermehrt rauchende Frauen gewandelt. Die mit Zeitverzug gestiegenen Todesfallzahlen infolge Rauchens und eine erhöhte Lernfähigkeit von Männern in Gesundheitsdingen änderten dann das Verhalten von Männern – sie rauchten weniger.

Die gegenwärtig erlebbare Idenditätskonstruktion von Männern erfolge immer noch vorrangig über ihre Berufsrolle. Bei tödlichen Arbeitsunfällen macht Dinges eine „gläserne Decke nach unten“ aus: Es gibt Risikobereitschaft im Beruf, von einer bestimmten Risikoschwelle an werden Frauen jedoch nicht mehr aktiv und bringen sich nicht in Gefahr. Die Leistungsgesellschaft profitiert also von der Einsatzbereitschaft der Männer und bestärkt deren berufliches Ethos; manchmal manifestiere sich das  – Doing Gender – auch in mangelnder Schutzkleidung. Auch gegen gespürte soziale Abwertung hielten gerade Männer einen männlich betonten Habitus besonders hoch.

Dinges bestätigte auch den Befund, dass Jungen eher erlernen, Körpersignale zu ignorieren. Anders zu sein, weniger hart, werde oft nicht akzeptiert und als Belastung empfunden. Sich öffnen müsse dementsprechend leichter werden, ein toleranteres gesellschaftliches Klima sei nötig. Der konstatierte „Härteimperativ“ für Jungen gelte später erst recht auch für Männer. Das ändere sich jedoch langsam: männliche Depression galt früher als Schwäche, das Auftreten und die Akzeptanz der Burn-Out-Problematik auch bei Männern stellt dies nun infrage, diesbezügliche psychische Zusatzdiagnosen stiegen in jüngster Zeit an.

Die konstatierten Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind jedoch häufig auch Unterschiede vor allem entlang von Lebenssituationen und sozialer Lage: wer weniger anstrengende Arbeit hat, nimmt eher körperliche Anzeichen wahr, geht zum Arzt und erfährt messbare Diagnosen. Gerade schlechter gestellte Männer müssten jedoch die Hauptzielgruppe für präventive Ansprache sein – diese sind für diesbezügliche Maßnahmen schlechter zu erreichen. Ein geschlechtsspezifischer Filter wirke zudem und verhindert, dass sich Männer mit dem Thema Gesundheit auseinandersetzen.

Früh Bewusstsein für Gesundheit schaffen, so Dinges, sei bei Jungen* besonders wirksam. Diesbezügliche Aufklärung sei zu wenig an Jungen und Männer adressiert. Auch Ärzte müssten lernen, Männer richtig zu adressieren und bei ihren Diagnosen an psychische Belastungen und Lebensweise denken, statt z.B. an Rückenschmerzen “herumzudoktern”. Erreichbare Öffnungszeiten von Arztpraxen in den Abendstunden seien zudem besser, als Schuldzuschreibungen an Männer, nichts für ihre Vorsorge zu tun.

Prof. Dinges Fazit: der Defizitdiskurs in Sachen Gesundheit schadet Männern. Männer hörten zu wenig von den Vorteilen, die eine gesunde Lebensweise mit sich bringe. Auch, sich im Diskurs unterschwellig auf das Verhalten von Frauen zu beziehen, sei nicht förderlich, gerade bei Jungen in der Pubertät. Den öffentlichen Diskurs dagegen auf die Ressourcen von Männern zu lenken, erlaube eine bessere Vorsorge und Erreichbarkeit der “Zielgruppe Männer*“.

Vortrag-Prof-Dinges.ppt

Podiumsrunde und drei Workshops am Nachmittag

Podiumsdiskussion mit einbezogenem Fachpublikum

In der anschließenden Podiumsrunde mit den beiden Experten und mit Silvia Rentzsch (TIAM e.V.) wurden Themenstellungen aus den beiden Vorträgen vertieft.  Fragen der Teilnehmenden wurden beantwortet.

2018-04-24_Protokoll_Fachtag-Podiumsdiskussion

Am Nachmittag vertieften die Teilnehmenden die intensiven Diskurse in drei Worhops.

2018-04-24-Protokoll_Fachtag-Workshop1

2018-04-24_Protokoll_Fachtag-Workshop2

2018-04-24_Protokoll_Fachtag-Workshop3

Dr-Stier-Seminar-Jungen-Männlichkeit und Risikoverhalten